Es ist alles gepackt, der Rucksack sitzt, ich will die Uhr zum Aufzeichnen der Etappe starten – und dann hat sich einfach noch so eine beschissene Zecke an meinem Handgelenk festgesaugt. Genervt setze ich den Rucksack wieder ab, ziehe mich halb aus und kontrolliere ein letztes Mal alle erreichbaren Stellen. Die Zeltplatzwahl war im Nachhinein wohl doch nicht die beste, und das war nicht die erste Zecke, die ich an diesem Morgen von mir abpflücken musste.
Muss ich mich dem Weg geschlagen geben?
Aber starten wir den Tag im Zelt: Ich erwache ausgeschlafener als gedacht. Der Regen hat mir meine erste „wilde“ Campingerfahrung … erleichtert!? Ja, irgendwie hat er mir ein Sicherheitsgefühl gegeben. Als ich mich aus dem Schlafsack pelle und aus dem Zelt steige, fühle ich mich wie ein junges Reh – eines, das gerade zur Welt gekommen ist und noch nicht weiß, wie es seine Beine benutzen soll. Ich stolpere die drei Stufen meines kleinen Plateaus hinunter und komme schwankend zum Stehen. Heute wandern? Fühle ich noch nicht. Zudem hat mir eine Nacktschnecke in den Schuh gekackt, und überall schwirrt irgendein Viehzeug herum. Vertreten ist wirklich alles, was die Insektenwelt zu bieten hat. Ich lasse mein Zelt über den Bänken trocknen, verspeise meinen leider nicht so leckeren Apfel und den Rest meines Frühstücks. Dabei krabbelt eine Zecke über mein Smartphone, zwei weitere entferne ich von meinen Beinen, eine von meinem Außenzelt. Die FSME-Impfung war definitiv eine gute Entscheidung. Beim Provianter in Krippen lasse ich meine Wasserflaschen von der netten Verkäuferin auffüllen und mir ein Käsebrötchen belegen. Den Latte Macchiato aus dem Kühlregal trinke ich direkt vor Ort.
Auf den Spuren der Romantiker
Nach einem knackigen Anstieg zurück in den Wald lässt sich der Weg über viele Kilometer angenehm erwandern. Die Tafelberge bewundere ich aus der Ferne, und auf den flachen Feld- und Wiesenwegen komme ich entspannt voran. Endlich mal Zeit, die Seele baumeln zu lassen. Die ersten Kilometer wandere ich auf den Spuren von Caspar David Friedrich (1774–1840). Während seines Krippen-Aufenthalts 1813 nutzte er genau diese Wege, um Landschaftsskizzen zu erstellen – viele Elemente, wie die Kaiserkrone, fanden später Eingang in berühmte Gemälde wie den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Mehrere Infotafeln an markanten Orten und Aussichtspunkten zeigen die Motive, die Friedrich damals festhielt. Der Malerweg verdankt seinen Namen den vielen Künstlern der Romantik, insbesondere den Landschaftsmalern, die im 18. und 19. Jahrhundert von der wildromantischen Natur der Sächsischen Schweiz begeistert waren. Sie kamen in die Region, um die dramatischen Felslandschaften, tiefen Schluchten, weiten Ausblicke und die mystische Atmosphäre in ihren Werken festzuhalten. Der Name „Malerweg“ wurde allerdings erst im 21. Jahrhundert offiziell eingeführt – im Zuge der Wiederbelebung historischer Wanderpfade. 2006 wurde die Route neu konzipiert, nach alten Skizzenbüchern und Reiseberichten rekonstruiert und als „Malerweg“ benannt – eine Hommage an jene Künstler, die diese Landschaft einst berühmt gemacht haben.




Mittagszeit ist Eiszeit und das Ding mit dem Verlaufen Teil 1
In Sachsen zirpen die Grillen lauter. Ich nehme mir vor, es heute langsam angehen zu lassen und alle fünf Kilometer eine Pause einzulegen. Bald sind die Beine warmgelaufen, und trotz der Anstiege funktionieren die Waden wieder, wie sie sollen. Der Wind bläst mir auf den offenen Flächen um die Ohren: Jacke an, Jacke aus. Zu warm, zu windig, zu kalt. Am Rande einer Ortschaft platze ich noch in einen Videodreh hinein. Ich weiß nicht, was genau da passiert, aber die Beteiligten scheinen Spaß zu haben. Vier Rentner stehen vor einem Mikrofon und lachen aus voller Kehle. Aus Gewohnheit fällt mein Blick sofort auf die Technik: eine Osmo Pocket und ein Mikro ohne Windschutz – im Sturm. Ich würde wirklich gern wissen, was bei diesem Dreh herausgekommen ist.
Schöna ist schön. Passend zur Mittagszeit komme ich durch den kleinen Ort und laufe direkt auf den Dorfladen zu – ein Bio-Tante-Emma-Laden mit regionalen Produkten, handgeflochtenen Freundschaftsarmbändern und einer riesigen Auswahl an Softeis. Ich gönne mir ein alkoholfreies Weizen und ein Kirscheis und verbringe eine gute halbe Stunde auf der Terrasse des Ladens. Beim Weiterwandern bin ich froh, dass mich hoffentlich niemand beobachtet hat – ich verlaufe mich nämlich zweimal in dem kleinen Ort, weil eine Menschentraube genau vor dem Wegweiser stand und ich ihn übersehen habe.


Ob Faulheit nochmal zu meinem Tod führt?
Nach einem sehr steilen Abstieg durch den Wald geht es mit der Fähre rüber nach Schmilka. Wie zauberhaft kann ein Ort sein? Mehr Weiler als Dorf, wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Ich gehe durch eine schmale Gasse mit liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern und komme auf das historische Ensemble aus Mühle, Bäckerei und Brauerei zu. Ich fühle mich wie in einer Filmkulisse. Es duftet nach frischen Backwaren aus dem Holzofen und das Mühlrad rattert vor sich hin. Da ich aber erst kürzlich Pause gemacht habe und noch einige Kilometer vor mir liegen, verweile ich nicht allzu lang.
Bevor es in den Wald geht, „warnt“ mich ein Schild vor der Wildnis – und es sollte zumindest ein bisschen recht behalten. Nach 14 erholsamen Kilometern zieht der Weg jetzt richtig an: gute 1.000 Höhenmeter auf den kommenden 12 Kilometern. Natürlich in Form von Treppen – wie sollte es auch anders sein? Ein rot-weißes Flatterband und ein Hinweisschild versperren mir den Weg. Zusammengefasst sagen sie: Akute Astbruchgefahr, umstürzende Bäume, Umweg 10 Kilometer. Boah, ne, hab ich so gar keine Lust drauf. Ich überlege kurz hin und her und schiebe mich dann unter dem Absperrband hindurch. Ein etwas mulmiges Gefühl überkommt mich dann aber doch, als ich in die schwankenden Baumkronen blicke. Die aufkommenden Windböen lassen die toten Bäume bedrohlich knarzen. Mit klopfendem Herzen nehme ich die Beine in die Hand und laufe die Treppenstufen im Wald hinauf. Der Wind wird stärker, das Knacken lauter – um mich herum lauter gefallene Bäume. Nach 400 Metern sehe ich ein zweites Flatterband: Die Gefahrenzone hat ein Ende. Wiedermal habe ich aus Faulheit etwas Dummes gemacht. Sollte vielleicht nicht zur Gewohnheit werden.







Steckdosen, Pringles und ein gutes Buch
Der weitere Weg ist recht unspektakulär. Passend zu einem Regenschauer komme ich auf dem Großen Winterberg mit gleichnamigem Biergarten an. Ich verweile mit einem weiteren isotonischen Kaltgetränk, bis der Regen nachlässt. Ich kratze an der Ländergrenze, sodass mein Smartphone kurz ins tschechische Netz hüpft. Ich laufe an verkohlten Baumstümpfen und frischen Birken vorbei – die verheerenden Spuren des größten Waldbrandes in der Region seit Generationen. Im Juli 2022 wurden etwa 110 Hektar auf deutscher und rund 1.000 Hektar auf tschechischer Seite ein Raub der Flammen – ein Gebiet etwa so groß wie Helgoland.
Die letzten Kilometer zum Campingplatz „Thorwaldblick“ ziehen sich. Einen Kilometer vor dem Ziel muss ich noch einmal meinen Regenschirm bemühen. Am Platz angekommen, öffnen sich die Schleusen des Himmels vollständig. Mit der Besitzerin, die mir eigentlich meinen Zeltplatz zeigen will, verbringe ich daher etwas Zeit auf der Bank vor der Rezeption. Sie erzählt mir vom Waldbrand, von komplizierter Bürokratie – wir reden über ehrenamtliche Arbeit und kommen von Hölzchen auf Stöckchen. Der Regen vergeht, und ich baue mein Zelt auf. Der gemütliche, kleine Platz ist ein Traum. Saubere, einladende Waschräume, ein Aufenthaltsraum, Brötchenservice, Trockenraum – und viele freie Steckdosen und das für nur 15 €. Ich verbringe den Abend also, eingedeckt mit einer Packung Pringles, meinem Couscous und einem Buch im Aufenthaltsraum, bis es dunkel wird.
Übernachtung: https://thorwaldblick.de/anreise.html
Buch: Die Farbe von Milch




