31 km vom Hermannsdenkmal in Detmold zur Sparrenburg in Bielefeld
Wer schonmal Colossos im Heidepark gefahren ist, kennt sicher dieses Gefühl. Man stellt sich in die Schlange und die Aufregung in Erwartung auf das was kommt, steigt. Man unterhält sich mit seinen Freunden, um zu verbergen, wie nervös man ist. Dann kommt der Moment des Einsteigens, die Sicherheitsbügel schließen und man wird hochgezogen. Klack Klack, Klack Klack, die Waggons ziehen über die Rückrollsicherung. Man blickt Richtung Himmel und fragt sich, auf was man sich da eingelassen hat. Zum Aussteigen ist es längst zu spät. Am höchsten Punkt angekommen geht es nur noch in eine Richtung. Die Achterbahn stürzt sich in den Abgrund. Augen zu und durch.
Heute geht es wirklich los!!!!
Der Laufrucksack ist gepackt. 4 Gels vorne, 2 in Reserve hinten. Die Trinkblase mit 1 Liter Wasser gefüllt. Krankenkassenkarte, Taschentücher, Kopfhörer, Windbreaker. 30 Euro in bar. 31 km über Waldboden, Sand, Kopfsteinpflaster und Asphalt liegen vor uns.
Um 9:30 Uhr kommen wir am Hermannsdenkmal an. Die Fahrt vom ZOB in Detmold mit einem der Shuttlebusse lief super unkompliziert. Das ganze Areal angefüllt mit gut gelaunten und sportlich aussehenden Menschen in bunten Laufklamotten. Wir machen einen Geländecheck zur Orientierung. Gehen einmal bis zum Hermann hoch und zurück. Laufen dabei Elias Sansa über den Weg. Er hat den Lauf einfach 16 mal gewonnen!! Warten dann am Stehtisch der Pommesbude noch auf Arbeitskollegen von Sven.
Kurzer Einschub: Ohne Sven hätte ich mich übrigens alleine niemals hierfür angemeldet. Wir haben zusammen Abi gemacht und sind über Insta irgendwie immer „in Kontakt“ geblieben. Man sieht halt, was die anderen so treiben. Dann hatte Nico, ein weiterer Schulfreund und guter Freund von Sven, ein Ticket abzugeben. Tja…dachte ich mir…nach einem weiteren Monat Bedenkzeit…was soll schon passieren? Und habs genommen. Sven hat sich so krass innerhalb eines Jahres von: „Ich bin noch nie gelaufen!“ Zu: „Ich lauf den verdammten Hermann mit, hoch trainiert.“ MASCHINE!!)
Um 10:30 Uhr bringen wir unsere Kleiderbeutel mit den Dingen, die wir am Ziel haben wollen (Duschsachen, Wechselklamotten etc.) zum ausgewiesenen LKW. Unterschiedliche Startnummern haben unterschiedliche Kleiderbeutelfarben und müssen in unterschiedliche LKW. Die Beutel sind übrigens riesig.
Das letzte Mal Pipimachen gestaltet sich als langwierige Geschichte. Die Schlangen vor den Dixies sind endlos. Aber so führe ich noch ein sehr nettes Gespräch mit 2 anderen wartenden Frauen. Die eine ist zum ersten Mal dabei, die andere zum dritten Mal.
Der Countdown läuft
Um 11:00 Uhr finden wir uns in unserem Startblock ein. Gruppe C läuft um 11:15 Uhr los. Insgesamt haben alle Läuferinnen und Läufer 5 Stunden Zeit um innerhalb der Wertung ins Ziel zu kommen. Nico, dessen Ticket ich übernommen habe, ist spontan doch dabei und läuft seinen 4. Hermannslauf.
Unser Countdown beginnt. Das Klack, Klack, Klack der Achterbahn manifestiert sich in meinem Kopf. 10…9…8… Ich starte meine Laufuhr…2…1… die Masse setzt sich langsam in Bewegung. Es geht wirklich los. Ich laufe. Es ist nichts dazwischengekommen. Ich bin weder krank geworden noch sonst was unvorhersehbares ist eigetreten. Ich laufe die verdammten ersten Meter des Hermannslaufs.
Bis Kilometer 5 geht es gemütlich zu. Bergab kann man entspannt warm werden. Wir verlieren Sven schon relativ am Anfang. Ich texte Nico die ersten Kilometer vor Aufregung und Adrenalin, glaube ich, einfach nur zu. Zuschauer stehen am Wegesrand und die Stimmung ist wirklich toll.
Der Ehberg
Die erste große Steigung ist der Ehberg. Hier drömmelt sich das Feld aber dermaßen, dass wir ein gemeinschaftliches „taktisches Gehintervall“ einlegen (ich liebe diesen Begriff). Wieder zu dritt, erklimmen wir den Berg. Zeit auch für das erste Gel. Es war beruhigend, die meisten Läuferinnen und Läufer zwischendurch auch mal gehen zu sehen und nahm mir an vielen Stellen den Druck. Es ist nunmal kein Straßenrennen, sondern schon eher ein Trailrunningevent mit 548 Höhenmetern.
Den Ehberg runter läuft mir Sven mit seiner 20 cm weiteren Schrittlänge davon. Die Beine wollen, was sie wollen. Ich versuche, mein eigentlich eh durchgehend zu schnelles, Tempo zu halten oder sogar etwas zu drosseln. Es liegt ja schließlich noch ein bisschen was vor mir.
Power-Ups und Party
Kurz vor der Panzerstraße sehen Sven und ich uns wieder. Nico läuft hinter uns. Nicht, weil er nicht schneller könnte. Er möchte es verletzungsbedingt ruhig angehen lassen. Aber Spoiler Alert: Es wird ein Wiedersehen geben!
Die Panzerstraße ist die erste mega Partymeile und gibt einen kleinen Vorgeschmack auf Oerlinghausen. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass ich mich im Nachhinein garnicht mehr genau an alles erinnern kann. Das ganze Event war ein großes Delirium für mich. Ich verstehe auch noch nicht ganz, wie ich das geschafft haben soll.
Richtig Schub geben mir die „Power Ups“. Klingt verrückt, aber nach jedem Schlag gegen eines der Pappschilder mit aufgemalten Mario Kart Pilsköpfen, fühle ich einen Schubs nach vorne. Der Kopf läuft das Rennen und der Körper macht mit.
An jeder Versorgungsstation wird ein Wasser mitgenommen. Von allem anderen halte ich mich lieber fern. Wer weiß, wie der Magen reagiert. Wird am Ende eh noch unlustig genug. Ich ahne es schon von Anfang an, aber hoffe trotzdem das Beste.
Bye Bye Sven
Bei Kilometer 11 oder 12 sehe ich Sven dann endgültig zum letzten Mal. Den kleinen Anstieg gehe ich etwas langsamer an. Ab da hoffe ich insgeheim, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. Ich wünsche mir, dass er das Rennen in seinem Tempo weiterhin so stark durchzieht.
Vor den Höhenmetern hatte ich anfangs ziemlichen Respekt, aber jetzt ist der Tönsberg ein Klacks. Natürlich laufe ich ihn nicht hoch. Mit meiner „Hände auf die Oberschenkel Technik“ bin ich aber auch nicht ganz langsam unterwegs. Auf dem Plateau angekommen erwartet uns alle eine wunderbare Aussicht. Für ein wirkliches Genießen bin ich dann aber doch zu sehr aufs Laufen fokussiert.
Vielleicht werde ich es wie mit dem Achterbahnfahren handhaben.
Die erste Fahrt: Augen zu und durch
Die zweite Fahrt: Augen auf
Die dritte Fahrt: Augen auf und jubelnd die Hände in die Luft
Aber wir werden sehen.
Oerlinghausen ist on fire
Kilometer 17 und 18 tun weh. Steil geht es bergab bis nach Oerlinghausen. Asphalt und Kopfsteinpflaster setzen den Knieen zu, aber schon von Weitem hört man die Menge toben. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Anfeuerungsrufe, Schilder, Menschen überall. Aus dem Nichts läuft mir eine Freundin förmlich vor die Füße. Ich wusste, dass Melissa kommen wollte, aber das sie mich so genau abpasst, ist eine wirklich schöne Überraschung. Der Ort bebt und für einige Zeit vergisst man, was man da eigentlich tut und genießt einfach die Atmosphäre.
Kleiner Downer
Der Schlag ins Gesicht folgt ein paar Minuten später. Der Lärm klingt ab und man hat auf einmal wieder Zeit, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Im Schopketal, dem tiefsten Punkt der Strecke, ist es deutlich ruhiger. Nur vereinzelt stehen Zuschauer.
Aus dem Wald heraus geht es an einem Wohngebiet vorbei. Die Anwohner feuern uns kräftig an und haben Gartenschläuche und Wasserwannen bereitgestellt. Auf Wunsch wird man mit Wasserpistolen beschossen.
Die Treppen …
Bei Kilometer 22, kurz vor den berüchtigten Lämershagener Treppen, fängt meine rechte Wade an zu zwicken. Mein Oberschenkel verhärtet sich. Die ersten Läufer, die mit Krämpfen am Boden liegen, machen es dem Kopf nicht leichter. Die inoffizielle Verpflegungsstation von Carolinen vor den Treppen ist cool, aber von dem Geruch der Orangenlimo wird mir schlecht. Das dritte klebrige Gel will auch nur noch semigut geschluckt werden.
Hier sind sie dann also die 127 Treppen. Da sich das Feld mal wieder drömmelt und man eh maximal zu zweit nebeneinander laufen kann, werden die Treppen zu einem „gemütlichen“ Spaziergang. Eine Läuferin neben mir macht einen Videocall mit ihren Kindern.
Wehe du stoplerst jetzt!
Auf Kilometer 23-24 geht es über den Bergrücken auf festgetretener Erde und ein paar losen Steinen wellig bergauf und bergab. Ich realisiere, dass ich wirklich gut in der Zeit liege. Es läuft viel besser als ich jemals erwartet hätte. Aber der Drops ist noch nicht gelutscht. Läuferinnen und Läufer, die mit Krämpfen am Boden liegen mehren sich. Hinter dem Eisernen Anton (Sendemast und höchster Punkt) geht es über Pflastersteine bergab. Eine Frau ist gefallen, liegt mit der rechten Gesichtshälfte auf den Steinen. Ihr Blut läuft über den Boden. Eine Kanüle steckt bereits in ihrem Arm. Nicht lange drüber nachdenken, weiter laufen.
Im Ernst – noch mehr Treppen?!
Wie gut, dass mich die Osningstaße ablenkt (Sakasmus an). Hinter einer Kurve tut sich nochmal eine verdammte Treppe auf. Wer hat die da hingesetzt und warum hat mir das vorher niemand gesagt? Sie ist steil und führt wieder hoch in den Wald.
Ab Kilometer 26 wird es für mich persönlich hart. Die Konzentration lässt nach und irgendwie will ich nicht mehr. Der Weg ist geröllig und uneben. Ich habe echt Schiß, dass ein Fehltritt, das Aus bedeuten könnte und das so nah vor dem Ziel. Mein inneres Mantra lautet: „Einen Schritt vor den anderen, einen Schritt vor den anderen.“ So kämpfe ich mich weiter die letzten Kilometer entlang. Aus der Hosentasche eines Läufers tönt „All the small things“ von Blink 182. Das sorgt bei mir nochmal für gute Laune. Er meint die letzten 15 Kilometer sei er mit Scooter gelaufen. Bin ich froh, ihn erst jetzt getroffen zu haben.
Hab ichs wirklich geschafft?
Der Lärmpegel steigt. Ist da wirklich gleich die Promenade der Sparrenburg? Neben mir höre ich auf einmal ein „Bis gleich“. Hat mich Nico auf den letzten Metern noch überholt.
Ich sehe den großen roten Torbogen. Werde emotional, aber an Flüßigkeit, die ich hervorbringen könnte ist nichts mehr übrig. Ich schaue auf die Wettkampfuhr am Zieleinlauf. 03:59:45. NEIN, denke ich mir. So knapp. Du kannst es schaffen unter 4 Stunden anzukommen. Ich lege nochmal einen Sprint ein, von dem ich nicht gedacht hätte, dass mein Körper ihn bewergstelligen könnte. 04:00:08. Für einen kurzen Moment bin ich enttäuscht. Die Dame im Ziel hängt mir die Medaille um und von rechts höre ich meinen Namen. Melissa ist auch zum Zielleinlauf gekommen und nimmt mich in Empfang. Vor der Umarmung muss ich aber noch schell meine Uhr stoppen. Ich habs wirklich geschafft. Krasse Nummer. Ich hab keine Ahnung wo ich hin muss, bahne mir meinen Weg durch die Menschenmasse. Rufe Sven an. Treffen an der Kleiderbeutelausgabe. Laufe rum wie in Watte gepackt. Schaue irgendwie nochmal auf meine Uhr und realisiere jetzt erst, dass die Zielzeit die Bruttozeit ist. Ich habe es einfach in 03:46:39 geschafft.
Sven und ich schaffen es uns zu finden. 03:30:53 RESPEKT. Wir sparen uns das Duschen vor Ort und sehen zu, dass wir seine Frau und Tochter finden. Alles weitere erledigen wir in Ruhe zu Hause. Auf dem Weg zum Auto merke ich jedoch schon, wie ich abbaue. Kreislauf super, Muskeln tun ihren Dienst. Verdauungssystem nähert sich jedoch mal wieder dem Totalausfall.
Die nächsten 24 Stunden liege ich aus dem Leben getreten im Bett. Kriege gerade mal so 2 Tassen Tee in mich hinein. Nach einem prognostizierten Schweißverlust von 3,5 Litern eher uncool. Dafür bleibt der Muskelkater fast aus. Die Oberschenkel merke ich ein bisschen. 😀
3 Tage später habe ich den Flüßigkeitsverlust so langsam wieder ausgeglichen, püktlich zur Wanderung auf dem Eggeweg.
Fazit:
Der Hermannslauf ist ein unfassbar tolles Event und nicht ohne Grund jedes Jahr schon nach wenigen Stunden ausverkauft. Alles war wirklich gut organisiert, und die Stimmung einfach bombastisch.
Mit ein paar Tagen Abstand kann ich mit Gewissheit sagen: Ich möchte im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder mitlaufen. Bis dahin werde ich mich hoffentlich besser vorbereitet haben. So dass mein Körper sich nicht wieder mit einer heftigen Magen-Darm-Überlastung herumschlagen muss.
So ganz verarbeitet habe ich das Ganze trotzdem noch nicht. Habe ich das wirklich geschafft? Dieses Ding, bei dessen Erwähnung die meisten meinten: „Puh, vor dem Event habe ich echt Respekt! Das ist ein richtig harter Lauf!“? Scheinbar habe ich es wirklich durchgezogen – und bin auch ziemlich zufrieden mit mir. Klingt vielleicht komisch, aber während des Laufens habe ich die ganze Zeit auf den Moment gewartet, an dem es so richtig anstrengend und wird und der Körper nicht mehr will. Aber der blieb einfach aus. Ich denke, die Atmosphäre, die Zuschauer und das Adrenalin des Events haben mich wortwörtlich am Laufen gehalten. Dafür bin ich richtig dankbar – und auch dafür, dass mein Körper erst drei Stunden später schlappgemacht hat.
Also lieber Hermann – hoffentlich bis 2026
Wenn ihr auch mal Bock habt mit zu laufen, dann gibt es hier alle weiteren Infos zum Hermannlauf und zur Vorbereitung habe ich mir auch dieses Video angeschaut: