Und dann waren einfach 63 km geschafft. Ich stehe wieder am Bahnhof in Lüchtringen, den ich vor 15 Stunden und 6 Minuten verlassen habe. 12 Dörfer und 2 Städte liegen hinter mir. Was geht mir durch den Kopf? Ich kann es gar nicht sagen. Aber eine gewisse Anspannung fällt von mir ab, als ich bei Komoot auf „Tour beenden“ drücke. Auch wenn es lächerlich klingt, aber ich hatte die ganze Zeit „Angst“, dass die Aufzeichnung zwischendurch abbricht. Natürlich weiß ich auch so, was ich da getan habe. Es aber mit Daten, Zahlen und Fakten zu belegen fühlt sich trotzdem ziemlich gut an.
Der Tag beginnt.
Wir schreiben den 2. September 2024 und der Wecker klingelt. Es ist 4:05 Uhr. Der Geist freut sich aufzustehen, der Körper hinkt noch hinterher. Ich schleppe mich ins Bad. Die Wandersachen liegen bereit. Der Rucksack ist gepackt und so kann es schon bald losgehen. Ich beäuge die Trekkingstöcke im Flur mit einem kritischen Blick, entscheide mich aber doch dazu, sie mitzunehmen.
Um 4:49 Uhr stehe ich am Lüchtringer Bahnhof und starte Komoot. An der Bahn entlang geht es Richtung Weser. Wenige Meter hinter der letzten bewohnten Straße ist es stockduster. Ich krame die Stirnleuchte heraus, falle halb über einen Trekkingstock und verliere meine Frühstücksbanane. Es ist halt noch früh.
Auf dem Radweg Richtung Höxter kommen mir nur 2 Radfahrer entgegen. Ansonsten bin ich allein, mit einem klaren Sternenhimmel über mir und dem kleinen erhellten Kreis meiner Leuchte vor mir. Der Wald neben mir raschelt. Schön und etwas gruselig zugleich. Ich kenne die Strecke gut, aber im Dunkeln ist irgendwie immer alles anders. Als ich mich der Corveyer Eisenbahnbrücke nähere, bin ich irritiert einen Lichtschein an einem der Pfeiler zu sehen. Nur um festzustellen, dass es mein eigener ist. Die Stirnlampe ist doch weitreichender als ich dachte. Die Leiste ziept mal wieder, linke Fußsohle brennt ein bisschen. Erst 4 Kilometer gegangen. Ich hoffe, dass sich das geben wird, sonst kann ich gleich wieder mit dem Zug zurückfahren.
Kurz vor Höxter lässt sich das erste vorsichtige Tageslicht über dem Solling blicken. Ich „verliere“ etwas Zeit, weil ich versuche das beste Foto zu machen. Der Himmel soll nicht ausbrennen, aber der Bodennebel trotzdem sichtbar sein. Dann noch das Handy für die Langzeitbelichtung ruhig halten. Es hat sich gelohnt.
Auf dem Weg zum Lieblingsplatz.
Um 6:01 Uhr gehe ich über die Höxteraner Weserbrücke. Menschen warten am Bahnhof auf ihren Zug. Ich gehe weiter. Am Friedhof vorbei, durch die Siedlung in den Wald. Hier heißt es zum ersten, aber nicht zum letzten Mal für heute: Schwitzen. Der Anstieg zum Rodeneckturm ist steil, aber vertraut. Heimstrecke. Lieblingsstrecke. Vor dem Sonnenaufgang noch stehe ich auf dem Turm und blicke über Höxter. Ist schon schön hier. Kann man nicht anders sagen. Soll ich für ein Bild noch auf die Sonne warten? Oh nein, die Rabbenklippen kommen. Der schönste Ort auf dem ganzen Weg. Ich beeile mich, um rechtzeitig da zu sein. Die Strecke führt auf schmalen Wurzelpfaden weiter bergauf. Immer goldener werdendes Licht scheint durch die Bäume. Auf die Minute genau erreiche ich den Aussichtspunkt oberhalb der Godelheimer Teiche. Die Sonne schiebt sich als orangefarbene Scheibe langsam über die Baumkronen des Waldes.
Perfekter Moment. Gutes Wetter, ich sprühe mich mit Anti-Brumm ein. Aber schaffe ich das wirklich? 50 Kilometer ohne Höhenmeter beim Megamarsch 2019, sind bisher mein persönlicher Rekord. Und wie kam es eigentlich zur jetzigen Tour?
Die Heimat erkunden.
Im Zuge der Landesgartenschau 2023 in Höxter, war und bin ich im Vorstand des dazugehörigen Fördervereins. Ich arbeitete auch in der ein oder anderen Arbeitsgruppe, in der sich Gedanken zu verschieden Veranstaltungen gemacht wurden. Um die Dörfer gut miteinzubinden, hatte ich damals schon die Idee einer verbindenden Wandertour in den Raum geworfen. Nicht alle Projekte können umgesetzt werden. So blieb es bei einer Idee. Diese hat mich aber nie so ganz losgelassen. Also habe ich mich nochmal hingesetzt und die Tour im Detail geplant. Die Umsetzung hingegen war dann doch eher spontan. Wenn in diesem Jahr noch, dann bald. Und hier wären wir.
An der Brunsberghütte gibt es den nächsten schönen Blick auf die Teiche. Zwei Reiter genießen ebenfalls die Morgenstunden und reißen ein Dosenbierchen auf. Prost! Wer Berge hochgeht, kommt irgendwann auch wieder runter. Ich streife Godelheim bei Kilometer 14,5. In Höxter hatte ich mich noch geärgert, keinen Apfel eingepackt zu haben. Wie unnötig. Frisch vom Baum schmeckt er doch am besten und versorgt mich mit dem ersten leichten Frühstück.
Hinter Godelheim geht es den Stockberg hoch und ich werde mit einem schönen Ausblick belohnt. Ein Weidetor, was sich eigentlich öffnen lassen sollte, versperrt mir den Weg. Also drüber klettern. Die Schafherde auf der Wiese oberhalb schaut gesammelt etwas sparsam. Auf der anderen Seite der Weide geht es einen Geröllweg hinunter. Nicht nur auf diesem kurzen Stück bin ich so froh, die Stöcker dabei zu haben. Ohne wäre ich wahrscheinlich auf dem Hintern runtergerutscht. Auf einem wunderschönen Waldpfad, mit Grasboden, nähere ich mich Ottbergen. Ich gehe ein Stück des „Ottberger Höhenwegs“.
Frühstückspause in Ottbergen.
Um etwa 10:00 Uhr habe ich die 20 Kilometer voll und ein Drittel geschafft. Als ob ich es geplant hätte (hab ich) liegt der Nahkauf vor mir. Verbunden mit 2 Enttäuschungen. Nummer 1: Es gibt keinen Schüttelkaffee im Kühlregal. Nummer 2: Die einzigen 1 Liter Wasserflaschen sind von „Evian“. Na ja, wenigstens kein Voss oder Fiji, denke ich mir. Erklärung: Ich habe zur Gewichtsersparnis Einwegplastikflaschen dabei. Normalerweise fülle ich sie unterwegs immer irgendwo mit Leitungswasser wieder auf, was ich die restliche Tour auch machen werde. Hier werfe ich meine leeren Flaschen in den Pfandautomaten und kaufe neue. Beim Bäcker gibt es ein fettiges, mit Glasur überzogenes Blätterteig-Mandelhörnchen und noch eine Laugenstange und ein Rosinenbrötchen für später. Der Zucker kickt rein und nach einer kurzen Pause geht es weiter.
Einmal über die Nethe in Ottbergen, vorbei an Wiesen und Feldern geht es nach Bruchhausen. Von dort erneut über die Nethe und den Berg hinauf nach Bosseborn. Zwetschgen und Brombeeren versüßen im wahrsten Sinne den Weg. Meine letzte Wanderung nach Bosseborn ging über nicht vorhandene Wege und war mit einigem Frust verbunden. Dieses Mal jedoch erfreue ich mich an schattigen, bewachsenen, aber nicht zugewachsenen Pfaden.
Trinken ist wichtig.
In Bosseborn selbst habe ich mich bei Susanne zum „Refill“ angekündigt. Bei 28 Grad müssen die verlorenen Liter auch wieder eingespeist werden. Am Ende der Tour werden es um die 6-7 Liter Wasser gewesen sein. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Knapp über 30 km habe ich jetzt geschafft. Halbzeit. Erstaunlicherweise geht es mir noch richtig gut. Keine Ermüdungserscheinungen und immer noch motiviert. Ich versuche auch bei dem Gedanken SCHON die Hälfte und nicht ERST die Hälfte zu bleiben.
Alles geschieht im Kopf.
Wie vieles im Leben ist auch diese Wanderung zum größten Teil Kopfsache. Hätte ich mir 30 Kilometer vorgenommen und wäre Bosseborn mein Endziel gewesen, wäre ich ab Kilometer 25 wahrscheinlich schon in den Endspurtmodus verfallen und mein Kopf hätte angefangen zu fragen: „Wann sind wir endlich da?“ und wäre quengelig geworden. So aber geht es einfach weiter. Bergab. Nach Ovenhausen.
Da während meiner Planung der Wasserstationen, in meinem Kopf, nach Bosseborn irgendwie schon Fürstenau kommen sollte (fragt mich nicht warum), steuerte ich auf einen Engpass innerhalb der nächsten 20 km zu. Dass ich so viel Wasser brauchen würde, hätte ich auch nicht vermutet. Der Wille, nicht scheitern zu wollen, hat die Vernunft in mir geweckt. Die hat gesagt: Trink! Der Bäcker in Ovenhausen hat noch Mittagsruhe, aber man kennt ja Menschen. Die beantworten dann einfach noch deine WhatsApp und boom – Tag gerettet.
In Lütmarsen, bei Kilometer 40, komme ich bei Corinna an und bekomme erneut meine Flaschen aufgefüllt. Ein Kischwassereis für den Weg gibt es auch noch. Durch Brenkhausen laufe ich einfach durch wieder hoch in den Wald Richtung Fürstenau. Und ab jetzt wird es so langsam spannend. Der Fahrradweg bergauf zieht sich und ich mache öfters Pause. Positiv überrascht bin ich von einer Gruppe jüngerer Jugendlicher. Sie schieben ihre Fahrräder ein ganzes Stück eine Wiese hoch, um sich dann auf die einfolierten Heuballen zu setzen und zu chillen. Die Dorfjugend hat es doch noch drauf, das Leben außerhalb der eigenen vier Wände zu verbringen.
Langssam wird es härter.
47 Kilometer und ich bin in Fürstenau. Im Vorhinein habe ich mich schon bei Zahn hoch 3 angemeldet. Zum einen arbeitet eine Freundin dort, wir haben beruflich miteinander zu tun und es ist auch mein Zahnarzt. Schweißgebadet betrete ich die Praxis und fühle mich in geschlossenen Räumen gerade nicht am aller wohlsten. Ich werde aber herzlich empfangen, kann auf Toilette gehen und ein letztes Mal Wasser auffüllen.
Die letzten 13 Kilometer werden zu den längsten dieser Tour. Das schon vorher beschriebene Quengelgefühl von „Wann sind wir endlich da?“ setzt ein und der durchgängig bergabführende Fahrradweg bis nach Hause macht es auch nicht besser. Zwischen Fürstenau und Bödexen komme ich noch am schön angelegten Biotop mit Holzbohlenbrücke vorbei und dann heißt es durchbeißen. Bei Bödexen mache ich die 50 Kilometer voll und realisiere: Mehr hattest du noch nie auf der Uhr stehen. Mir tut eigentlich nichts wirklich weh, außer den Füßen, die etwas leiden und den juckenden Mückenstichen. Durch die Socke, da wo kein Anti-Brumm hingekommen ist, hat mich diese bescheidene Bremse gebissen. Ich versuche mich auf die Musik zu konzentrieren, die mir schon seit Ottbergen einen Hintergrundsoundtrack verpasst. 16 Songs sind in meiner „12 Dörfer“ Playlist. Spotify hat die Funktion „Smart Shuffle“ eingefügt und ergänzt zwischendurch immer weiter Songs, die deinem Geschmack entsprechen. Das funktioniert richtig gut. In 9 Stunden habe ich keinen Song übersprungen.
Immer weiter …
Albaxen erreiche ich um 18:14 Uhr nach 54 Kilometern. Es zie…h…t sich wie Kaugummi. Stahle 56 Kilometer. Holzminden 58 Kilometer. Langsam bereitet sich die Sonne aufs Untergehen vor. Und ich frage mich wo der Tag geblieben ist. Paradox. Zeit ist relativ und so.
19:58 Uhr und 63 Kilometer. Ankunft am Lüchtringer Bahnhof.
Ganz vorbei ist die Lauferei aber noch nicht. Ich muss noch den Berg zu meiner Wohnung hoch. Dort wartet eine, in weiser Vorrausicht vorbereitete Lasagne auf mich, die nur noch in den Ofen geschoben werden muss.
Fazit: Auch einen Tag später fühlen sich die Beine nur mäßig steif an. Das Aufstehen fällt etwas schwer, aber sobald in Bewegung ist alles gut. Die Strecke selber war sehr schön und hat viele kleine lokal gepflegte Wanderpfade miteinadner verbunden. Das Weserbergland ist einfach ein Muss für jeden naturliebenden Menschen mit Wanderambitionen.